Freitag, 15. Mai 2015

Vom Wert des Mangels

Zuallererst muss ich klar stellen, von welchem Mangel ich hier nicht rede:
Es ist auf keinen Fall der Mangel an Nahrung, Wasser, Kleidung, Gesundheit, Freunden, die durch Armut entstehen, denn dies sind Werte und Zustände, die unabdingbar und nicht diskutabel sind.

Ich rede vom Mangel an Überfluss:
Zu viel Essen, Trinken, Kleidung, Wohlstand, Termine, Informationen, Kontakte etc. etc.

Ich kann verstehen, dass meine Aufzählungen etwas undurchsichtig sind, deshalb will ich es an einem Beispiel erklären:

Für mich war in meiner Kindheit eine Brezel etwas ganz ganz besonderes. Ich glaube, dass ich bei meiner Oma immer mal wieder eine Brezel bekommen habe (sie hat damals 20 Pfennig gekostet...). Und ab und zu hat mein Papa ein paar Brezeln für uns mitgebracht. Jedenfalls war es immer eine große Freude, wenn ich eine Brezel bekommen habe. Auch heute ist eine Brezel für mich immer noch etwas ganz besonderes. Wenn ich mir eine kaufe, dann denke ich mir dabei oft: "Danke, danke, danke, dass ich mir einfach so eine Brezel kaufen kann." Ja, es ist immer noch etwas außergewöhnliches für mich, und das, obwohl ich bei diversen Sitzungen ständig Brezeln bekomme. Wenn es mir dann mal zu viel wird, setze ich manchmal mit dem Brezelessen aus, aber schon bei der nächsten Butterbrezelsitzung freue ich mich wieder, eine zu essen. Für meinen pubertierenden Sohn bringe ich manchmal eine Brezel von so einer Sitzung mit und sie wird zum Vesper auf dem Toaster aufgebacken. Er hat wohl meine Brezelfreude geerbt und freut sich jedes Mal darüber. Entweder liegt das daran, dass die Freude darüber tatsächlich genetisch bedingt ist (naja....), oder es liegt daran, dass er nur sehr selten eine Brezel bekommt und es deshalb für ihn ein kleiner Luxus ist.
Dagegen kann ich mir nicht vorstellen, dass die Kinder, die heutzutage ab dem Zeitpunkt, in dem sie in einem Kinderwagen eigenständig sitzen können, entweder eine Brezel oder so einen pappsüßen Löffelbiskuit in der Hand haben, sich über die Brezel freuen können. Ich bin mir sogar sicher, dass sie einen tatsächlichen Mangel spüren, wenn sie mal KEINE Brezel haben. Oder sie ärgern sich und sind unausstehlich, wenn sie anstatt des süßen Löffelbiskuits "nur" eine Brezel bekommen.

Ein anderes Beispiel direkt aus meiner Familie: Wir wohnen in der Innenstadt und in ca. 100 Meter Entfernung ist die erste gute Eisdiele und in 300 Meter Entfernung die zweite. Mein Sohn durfte sich ab seinem dritten Lebensjahr im Sommer jeden Tag eine Kugel Eis kaufen (ich fand das nicht so gut, aber der Gatte wollte auch jeden Tag ein Eis und hat sich nicht davon abbringen lassen). Irgendwann hat dann der Sohn zwei Kugeln Eis von der Oma bekommen. Am nächsten Tag war die eine Kugel schon ein Anlass zur Unzufriedenheit. Also hat er ab diesem Tag üblicherweise eine Kugel und ab und zu zwei Kugeln gekommen. Zu seinem Geburtstag hat er dann einen 10-Euro-Gutschein für die Eisdiele geschenkt bekommen und hat sich eine Wundertüte gegönnt (3 Kugeln mit Sahne und Schokosoße). Ab diesem Zeitpunkt hat er bei zwei Kugeln schon rumgenölt. Das ist uns alsbald zu blöd geworden und wir haben das Eis für eine Weile ganz gestrichen. Und holla die Waldfee, ab diesem Zeitpunkt hat er sich wieder über diese einzige Kugel sehr gefreut. Es gibt jetzt nur noch eine Kugel bei mehr als 20 Grad und nicht täglich, sondern ausnahmsweise und wenn wir es schaffen, alle drei zur Eisdiele zu gehen, dann gibts eine Kugel mit Sahne oder zwei Kugeln. Darüber freuen wir uns immer alle sehr.

Das Brezel- und das Eisbeispiel zeigt sehr anschaulich, wovon ich zutiefst überzeugt bin:

Nur aus einem relativen Mangel kann ein Gefühl von wahrhaftigem Luxus entstehen.

Man kann es auf alles Alltägliche übertragen:

Nur wer wenig Zeit hat, freut sich über einen freien Tag
Nur wer müde ist, freut sich auf sein Bett
Nur wer nicht ständig Termine hat, freut sich über ein Date
Nur wer nicht ständig zu viel isst, freut sich wirklich über ein gutes Essen

Und ich bin auch davon überzeugt, dass der größte Teil der Unzufriedenheit, unter der nicht nur die Kinder, sondern auch viele Erwachsene leiden, dadurch verursacht wird, dass kein Mangel mehr erlebt wird. Worauf sollen wir uns denn freuen, wenn alles im Übermaß vorhanden ist?????





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