Dienstag, 21. Juli 2015

Ganz beseelt vom Schützenfest


Mit 19 Jahren bin ich weg gezogen von meiner Heimat und es war gut so, denn ich wäre dort nicht der Mensch geworden, der ich heute bin. Aber im Juli, ja da habe ich Heimweh und ich sitze während der Arbeit immer wieder vor dem Rechner und klicke mich in die Webcam ein, die Bilder vom Marktplatz überträgt. Immer wieder schaue ich hin und erlebe so mit, was die vielen vielen Menschen dort live erleben dürfen:

Das BIBERACHER SCHÜTZENFEST.

Niemand, der von außerhalb an dem Fest teilnimmt, kann nachvollziehen, wie oder was das Schützenfest ist:


Es ist nicht nur ein Fest, sondern es ist ein Gefühl. Es ist nicht nur toll oder interessant, die Trommler, Pfeiffer und Fahnenschwinger machen nicht nur gute Arbeit, sondern es ist ein Gefühl im Herzen, in der Seele und im Biberacher Bewusstsein. Jedem Biberacher ist es feierlich zumute und wir sind alle ganz beseelt.

Dieses Jahr bin ich 50 Jahre alt geworden und mir wurde zum zweiten Mal die Ehre zuteil, am samstäglich stattfindenden Jahrgängerumzug teilzunehmen. Davor waren wir noch bei der Abnahme, bei der alle Biberacher Trommler und Fanfaren ihr Können zeigen müssen. Nur wenn es ein ok der Schützendirektion gibt, dürfen sie an den Umzügen mitlaufen.

Nach der Abnahme wurde es knapp, ich musste heim, mich umziehen und wieder in die Stadt. Die Parkplätze sind rar, aber ich hatte Glück. Ich bin zur Kirche gehetzt, denn dort wird das großes Gruppenfoto gemacht, bei dem ich kaum jemanden erkannt habe. Anschließend gab es Sekt auf dem Viehmarktplatz und schon da habe ich manchen von früher getroffen. Auch meinen Freund aus Kindertagen habe ich getroffen. Ein Glas Sekt und ein paar Umarmungen später, habe ich mich in der Kirche wiedergefunden. Da es so heiß war, sind wir schon eine halbe Stunde vor dem Beginn des Gottesdienstes in die Kirche und das war gut so, denn schon kurze Zeit später gab es keinen Platz mehr. Wahrscheinlich ist nur an Weihnachten die Kirche ähnlich voll. Auch wenn in Oberschwaben der Anteil der Katholiken gefühlte 99,9% beträgt, so ist die Biberacher Kirche doch ökumenisch, weswegen zwei Pfarrer im Dialog den Gottesdienst geleitet haben. Die Chorknaben sangen und wir alle – begleitet von der kleinen Schützenmusik - zum Schluss dann lauthals und aus vollen Kehlen das Schützenlied. Mehrfach stiegen mir die Tränen der Rührung (und des Glückes) auf. 

Dann ging es zur Aufstellung des Jahrgängerumzuges, wo meine Schwester mir einen Biberacher Schirm und ein Schild mit Grüßen aus meiner Wohnstadt überreichte (Danke meine liebe kleine Schwester!!!!). Der Umzug ist kurz und die Wege sind in zig-fachen Reihen von Menschen gesäumt, die den Jahrgängern kleine Geschenke um den Hals hängen oder Blumensträuße und Schützenrosen überreichen. 

Die 50er waren zwar schon immer die größte Gruppe, aber die 100er bekommen den meisten Beifall. Ja, es lohnt sich, in Biberach bei guter Gesundheit 100 zu werden. Es ist überwältigend, unter welchem Jubel und Beifall die Alten durch die Straßen gehen. Viele sitzen im geschmückten Rollstuhl oder schieben einen Rollator vor sich und manche werden von ihren Enkel, oder wohl eher Urenkeln gestützt und begleitet.

Jeder kennt irgendjemanden und sogar ich, die ich schon seit 31 Jahren nicht mehr dort lebe, habe ein paar Sachen um den Hals gehabt. Aber die bekannten Biberacher können ihre Geschenke um den Hals fast nicht mehr tragen. Sie sehen aus, wie Festochsen und können sich nach dem Umzug kaum mehr von dieser Last befreien.

Auf der Tribüne am Markplatz war meine Familie, das hat mir meine Schwester schon gesagt und ich habe sie mit nervösen Blicken gesucht und gefunden. Jetzt, wenn ich dies schreibe stehen mir schon wieder die Tränen in den Augen. Auch ich wurde bejubelt sie haben sich alle mit mir gefreut. Es ist wirklich unbeschreiblich. DANKE, DANKE, DANKE!

Nach dem Umzug gingen wir zum „Festlokal“ in die Stadthalle. Das Essen war ok, die Musik war zu laut und um 1 Uhr blieb mir die Stimme weg, weil wir so schreien mussten, um uns zu verstehen. Ich habe getanzt, zu viel gegessen und viel Mineralwasser und alkfreies Bier getrunken. 

Die Musik war nicht nur zu laut, sondern auch nicht so mein Ding und ich habe mir schon überlegt heim zu gehen, aber vorher wollte ich noch in die Stadt und das Schützenfeeling aufsaugen. Dort war es vor dem „Tweety“ laut und übervoll (ein Biberacher weiß, wovon ich rede). Ich hab mir einen großen alkfreien Ipanema gekauft und bin ein wenig durch die Biberacher Gassen gegangen. Wie schön doch die alten Häuser in den letzten Jahrzenten hergerichtet wurden und wie sehr sieht man daran den Reichtum der Stadt. Obwohl die Altstadt groß ist, gibt es kaum ein Haus, das nicht renoviert ist. 

Um 3 Uhr war ich dann wieder an der Stadthalle und wollte eigentlich meine Sachen packen und heim fahren. Aber dort, auf den Stufen vor dem Saal, saßen ein paar alte Schulfreunde von mir und ich habe mich hingesetzt, wir haben geplaudert und gelacht und Geschichten von früher erzählt. Jeder hat einen anderen Blickwinkel und jeder erzählt die Geschichten auf die Art, wie es seinem Charakter entspricht. Bald habe ich den hellen Schimmer am Himmel gesehen, dieses untrügliche Zeichen, dass bald die Sonne aufgeht und das ich schon lange nicht mehr gesehen habe.

Ich blieb also doch sitzen, es wurde ein wenig kalt, ich hab mir meine Jacke geholt, wir haben uns die schlimmsten und unglaublichsten Geschichten aus unserer Kindheit erzählt, es kamen mir bislang Unbekannte dazu und wir haben sehr sehr viel gelacht. 

Um 5.45 Uhr kamen die Trommler und Pfeifer des Bischof-Sproll-Bildungszentrums, bei denen mein Neffe mitspielt. Ja, ich war ganz schön stolz auf ihn, er hat es sehr sehr gut gemacht und er war seeeehr cool!!! Sie können den WG-Trommlern, zwar noch nicht ganz in der Coolness, aber ganz locker in der musikalischen Leistung das Wasser reichen. Für eine neu gegründete Gruppe das höchste Kompliment. Herzlichen Glückwunsch!

Eigentlich wollte ich gar nicht durchmachen und bis zum Frühstück im Alten Haus bleiben, denn beim 40er Fest war alles extrem zäh und mir hat es nicht gut gefallen. Aber dieses Mal, beim 50. war es federleicht und so hat es sich auch angefühlt. Ich war frei und habe mich soooo jung gefühlt.

Die Trommler haben uns dann zum Alten Haus begleitet, haben dort noch ein paar Stücke gespielt und zum Schluss haben wir alle nochmal das Schützenlied gesungen. Dass dies sich nicht mehr so harmonisch wie in der Kirche angehört hat, war unseren lädierten Stimmen geschuldet, wurde aber von allen in keinster Weise beachtet.

Im Alten Haus, der legendären Biberacher Kneipe gab es ein legendäres Frühstück und die Männer hatten offensichtlich Durst, denn als ich mir einen Platz im Biergarten ergattert habe, standen schon die halbleeren Weizengläser auf den Tischen. Auf eben diesen wurde ein paar Stunden später  dann auch wild getanzt und es grenzt an Wunder, dass es keine Toten oder Verletzten gegeben hat.

Um 10.30 Uhr bin ich nach Hause gefahren. Glücklich und beseelt. Und das bin ich immer noch.

Gestern früh (also am Schützenmontag), als ich mit dem Zug nach Stuttgart gefahren bin, war das Leben nicht mehr so schwer und nicht mehr so schlimm. Mein Lieblings-Obdachloser hat von meiner leichten Stimmung profitiert, denn er hat 20 Euro bekommen und mir einen schönen Tag gewünscht. Am liebsten hätte ich ihm „scheene Schütza“ zugerufen, aber keine Sorge, ich hab es nicht getan. Dafür habe ich meinen Kollegen umarmt und geküsst (was ich bei ihm öfter mache) und einem anderen Kollegen habe ich mit kurzer Vorwarnung einen Schützenkuss gegeben. Den ganzen Tag hat er mich angegrinst, wie ein Honigkuchenpferd und ich mit.

Meinen Gleichtgesinnten, die aus diversen Gründen nicht mehr in Biberach leben, den Exil-Bibern also, Euch kann ich nur zurufen: „Kommt zum Jahrgängerumzug, sucht Eure Freunde, umarmt sie und redet über Eure Jugend, seid glücklich und lebt Euer Leben mit vollen Zügen.“

Ich wünsche allen Biberachern eine „scheene Schütze“.

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